Wie weit ist Verständigung und Konsens im Diskurs möglich? (2005)


Immer dann, wenn in Politik und Gesellschaft großzügig mit Zahlen jongliert wird, ist bekanntlich Vorsicht geboten. Bei der deutschen Einheit wurde Anfang der 90er Jahre die einfache Rechnung aufgemacht, dass Vier plus Zwei problemlos Eins ergeben. Oder aktuell: führende europäische Politiker bearbeiten die Konvergenzkriterien des Stabilitätspaktes mit ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Weichspülern so, dass die 3-%-Marke auch manchmal bei 3,5 % oder 3,8 % liegen kann. Und so wollen uns auch unverbesserliche Idealisten immer wieder erklären, dass Diskurse zwischen zwei und mehreren verschiedenen kulturellen Kontexten zwangsläufig zu einer Einheit führen können, ja sogar müssen. Das dies in der Praxis alles andere als üblich ist, lässt sich über lange Zeiträume verfolgen.

Auf der anderen Seite gehen Denker wie etwa der amerikanische Pragmatist Richard Rorty davon aus, dass solche Diskurse gänzlich aussichtslos sind. Rorty vertritt einen radikalen Kontextualismus, eine Weltsicht, die nur der eigenen Umgebung und den eigenen Werten einen objektiven Geltungsanspruch zubilligt. Er hält einen globalen Grundkonsens in Fragen von Ethik und Moral für unmöglich. Als Gast im Streitraum der Berliner Schaubühne im November 2001 zum Thema des Angriffskrieges der Amerikaner auf Afghanistan unterstrich Rorty diese Position, als er auf die Feststellung, dass Kritiker hierzulande einen Dialog der Kulturen statt Bomben fordern, wie folgt antwortete: “Ich verspreche mir nichts von solch einem Dialog. In den zwei Jahrhunderten seit der Französischen Revolution ist in Europa und Amerika eine säkulare humanistische Kultur gewachsen, in der viele gesellschaftliche Ungleichheiten beseitigt wurden. Es gibt noch viel zu tun, aber der Westen ist grundsätzlich auf dem richtigen Weg. Ich glaube nicht, dass er von anderen Kulturen etwas zu lernen hat. Unser Ziel sollte es vielmehr sein, den Planeten zu verwestlichen.”

Führende Diskurstheoretiker wie Jürgen Habermas oder Befürworter von interkulturellen Diskursen wie Ram A. Mall und Hans Küng gehen einen Mittelweg, der weder auf rein idealistischen Prämissen fußt noch dem Ansatz Rortys folgt. Grundvoraussetzung für einen erfolgversprechenden Diskurs ist es, die personale Verankerung eines solchen Diskurses in den Vordergrund zu stellen. Denn ein wie auch immer gearteter Diskurs ist zunächst einmal kein Vorgang zwischen “ganzen Kulturen”, sondern zwischen Individuen. Es geht nicht um eine kollektive Identität. Es geht immer um die personale Identifizierung mit dem im Diskurs Verhandelten. Die Entscheidung, was mit den Resultaten eines Diskurses geschieht, obliegt nie einem Kollektiv, sondern findet immer auf individueller Ebene statt.

I. Veröffentlichungstitel:

Wie weit ist Verständigung und Konsens im Diskurs möglich? Ein analytischer Vergleich von Jürgen Habermas, Hans Küng und Ram A. Mall

II. Bibliographische Angaben:


Dis|kurs. Politikwissenschaftliche und geschichtsphilosophische Interventionen, Heft 1/2005, Cuvillier Verlag: Göttingen 2005, S. 7-19, ISBN 3-86537-484-0

III. Cover der Publikation: